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Mittwoch, 27.09.2023, 17:11
Wenn Mel (62), Industriedesigner aus Stuttgart, Urlaub gemacht hat, ist er meist nach Frankreich gefahren. Jetzt kommt er mit seinem Fahrrad-Wohnwagen vor der Haustür „in den Flow“. In wenigen Minuten ist alles gepackt, dann kann es losgehen. Ein neues Lebensgefühl.
FOCUS online: Sie reisen mit einem Fahrrad-Camper. Spannend. Sieht aus wie ein Wohnwagen, nur viel kleiner…
Mel: Reisen passt nicht so gut, finde ich. Ich spreche lieber vom Unterwegs-Sein. Und genau so hat es Ende März auch angefangen. Ich war viel mit dem Pedelec unterwegs. Der Impuls kam aus der Corona-Zeit. Damals bin ich viel öfter Fahrrad gefahren als sonst. Reisen ging nicht, aber die ganze Zeit daheim bleiben war irgendwie auch keine Option. Ich wohne seit 1983 in Stuttgart, habe viele Naherholungsgebiete aber erst in den letzten zwei bis drei Jahren kennen gelernt. Eine große, positive Überraschung.
Was genau hat Sie überrascht?
Mel: Ich habe die Tiefe der nächsten Umgebung erfahren können und dringe dabei seit dem Frühjahr immer weiter vor. Durch den Fahrrad-Wohnwagen bekommt das Unterwegs-Sein eine andere Dimension. Das ist was anderes als die klassische Fahrradtour und auch als das so genannte Bike-Packing mit Zelt. Man hat einen festen Begleiter, durch den wird das Erleben der Landschaft anders. Und auch sich selbst erlebt man neu.
Erzählen Sie mal, wie sind sie auf die Idee mit den Mini-Wohnwagen gekommen?
Mel: Das ergab sich, als ich festgestellt habe, wie schön die Heimat ist. Warum in die Ferne schweifen? Das ist tatsächlich mehr als eine Phrase. Ich bin dann zufällig über dieses YouTube Video von einem Typen aus der Fahrrad-Wohnwagen-Szene gestolpert und wusste sofort: das ist es. Ich glaube, der springende Punkt ist dieses Unmittelbare, das man mit dem Auto oder dem Wohnwagen nie hat. In der Sekunde, wo mir ein Platz zusagt, kann ich anhalten. Ich kann Rast machen – oder sogar bleiben.
Mit einem Zelt ginge das auch.
Mel: Ich bin nicht der Typ, der gerne zeltet. Ich mag es nicht, auf dem Boden zu schlafen. Ein Zelt bietet mir gefühlt auch zu wenig Schutz. Der Fahrrad-Wohnwagen ist ein schöner, kleiner, heimeliger Kokon. Und es kommt noch etwas anderes hinzu. Für ein Zelt brauche ich in Deutschland einen Zeltplatz. Mit dem Fahrrad-Camper stelle ich mich einfach hin. An einem Grillplatz, einer Wiese, einem See.
Ist so zu übernachten denn legal?
Mel: Man bewegt sich in einer grauen Zone. Streng genommen könnte man mit der Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit argumentieren. Wenn ich Auto fahre und unterwegs anhalte und ein Nickerchen mache, kann ich schließlich auch sagen: Ich bin müde, kann nicht mehr fahren, muss rasten. Bisher gab es keine Probleme, es hat sich noch nie jemand beschwert.
Wo haben Sie den Wohnwagen eigentlich her?
Mel: Er ist selbst gebaut. Das war mir so wie vielen in der Szene ganz wichtig. Schon das Bauen erlebt man als Herausforderung und Befriedigung. Als Designer gestalte ich sonst stets nach meinen Vorgaben. Beim Entwurf des Wohnwagens war ich vollkommen frei. Dieser Wohnwagen ist rundum meins. Etwas, was ich kontrollieren kann, wo mir keiner hineinredet.
Ist das ein entscheidender Aspekt dieser Leidenschaft?
Mel: Ja, tatsächlich glaube ich das. In der Pandemie haben wir erfahren, wie eingeschränkt alles sein kann. Mit dem Fahrradwohnwagen ergeben sich ganz neue, individuelle Erfahrungen und vor allem Begegnungen, die den erlebbaren Kosmos erweitern.
Wie lange hat der Bau gedauert? Und was haben Sie investiert?
Mel: Der Anhänger war nach etwa drei Monaten fertig. Die Materialkosten hatte ich niedriger eingeschätzt. Da sind fast 2000 Euro zusammengekommen. Allein für das Sperrholz habe ich fast 800 € ausgegeben. Der Holzpreis ist in dieser Zeit wahnsinnig raufgegangen. Klar hätte man manches günstiger haben können. In Foren gibt es verschiedene Bauanleitungen zum Runterladen.
Die meisten nehmen Aluminium-Profile aus dem Baumarkt und Hohlkammerplatten. Das ist vergleichsweise einfach und weniger kostenintensiv. Ich habe die Teile nach meinen Vorgaben in einem Betrieb fräsen lassen. Die Anmutung eines Produkts ist mir sehr wichtig.
Sie meinen, Sie legen Wert auf eine schöne Form?
Mel: Absolut, ja. Ich fahre schließlich mit einem relativ großen Anhängsel auf Fahrradwegen, durch Parks, über Straßen. Ich möchte nicht, dass mein Begleiter sperrig oder aggressiv wirkt. Die Ausstrahlung soll positiv sein. Ich glaube, das ist gelungen. Viele Leute reißen die Augen auf, wenn sie meinen Camper sehen. Die Fahrradfahrer vor allem. Auf die ersten erstaunten Blicke folgt in der Regel eine große Offenheit. Sobald ich irgendwo stehe, gibt es eigentlich immer Gespräche, und zwar die, bei denen man kaum noch wegkommt. Ich habe noch nie so viel kommuniziert wie in den letzten Monaten.
Wie lange sind Sie in der Regel unterwegs?
Mel: Zwei bis drei Tage. Die erste Tour ging zweieinhalb Tage, 140 km. Die erste Nacht war ich auf einem Campingplatz. Ich wollte mich herantasten, außerdem musste mein Pedelec geladen werden. Inzwischen habe ich immer einen Ersatz-Akku dabei, auf einem Campingplatz war ich nicht mehr. Was ich öfter mache: mich mit Leuten aus der Szene treffen. Die ist ziemlich gut vernetzt.
Was sind das für Menschen?
Mel: Viele Bastler, ein paar Handwerker, die unterschiedlichsten Leute. Der Jüngste, den ich kenne, ist 14 und hat sich einen Wohnwagen aus Styrodor gebaut. Auch 70- und 80-Jährige trifft man.
Was nehmen Sie alles mit auf eine Tour?
Mel: Den Ersatz-Akku wie gesagt, eine Powerbank fürs Handy, ein bisschen Proviant, einen Schlafsack, einen kleinen Kocher für Kaffee. In 10 Minuten bin ich abfahrbereit. Leer wiegt der Anhänger 37 Kilo, voll bepackt 45.
Ist es nicht anstrengend, beim Radeln so ein Gewicht zu ziehen?
Mel: Anstrengend nicht, aber ohne Anhänger fährt es sich natürlich schon leichter. Die Belastung eines E-Bikes plus Anhänger entspricht ungefähr der eines Analog-Rades. Nicht umsonst habe ich beim Bauen mit jedem Gramm gegeizt. So habe ich zum Beispiel darauf verzichtet, dass man die Fenster öffnen kann. Mit den Scharnieren wäre das gleich mehr Gewicht gewesen.
Mit dem Fahrrad-Wohnwagen unterwegs zu sein, das scheint echter Minimalismus.
Mel: Ja, und zwar nicht der, den man aus Mode- oder Einrichtungszeitschriften kennt. Ich habe das total zu schätzen gelernt, so reduziert zu sein. Und auch, dass man allein unterwegs ist und jeweils für den Moment entscheidet. In der Szene gibt es auch Leute mit zweistöckigen Anhängern.
Das ist aber was anderes, finde ich. Bleibe ich stehen? Will ich weiter? Habe ich genug oder noch nicht? Die meiste Zeit gibt es nur die Umgebung und mich, das bringt einen wunderbar zur Ruhe. In den Flow wie man so schön sagt.
Vom herkömmlichen Reisen haben Sie sich bei so viel Begeisterung vermutlich verabschiedet?
Mel: Nein, das mache ich weiterhin. Meine Frau und ich haben einen Wohnwagen, wir sind viel in Frankreich und Italien. Mit dem Fahrrad-Anhänger ist eine neue Komponente des Unterwegs-Seins hinzugekommen. Eine, die ich nicht mehr missen möchte!
Mehr Informationen finden Sie auf fahrradwagen.com .